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Einen spektakulären Fund machten am 18. Januar 2019 zwei unserer Geologen in einer Baugrube in Ratingen: Rippen und Knochenstücke einer Seekuh, die hier vor etwa 28 Millionen Jahren gelebt hat.
Dr. Stephan Becker und Daniel Schrijver erzählen von ihrer aufregenden Entdeckung. Unser Paläontologe Christoph Hartkopf-Fröder berichtet über die ersten spannenden wissenschaftlichen Untersuchungen der Seekuh und ihres Lebensraumes.
Becker: Wir waren an diesem Freitag für die geologische Landesaufnahme bei Ratingen im Projektgebiet Düsseldorf/Bergisches Land unterwegs. Es ist ein wesentlicher Bestandteil der geologischen Erkundung, Aufschlüsse – dazu gehören auch Baugruben – zu dokumentieren. Jede Information, die wir über den Untergrund bekommen können, ist wichtig und fließt in neue geologische Karten des Landes Nordrhein-Westfalen ein. Als wir in die frisch aufgebaggerte Baugrube gingen, ahnten wir nicht, welche Entdeckung wir machen würden.
Schrijver: Zunächst haben wir gar nichts Besonderes in den monoton-grauen Tonen gesehen. Doch dann fielen uns in einer Böschungsecke der Baugrube viele Muschelschalen, Schneckengehäuse und andere kleinere Fossilien auf. In dieser etwa 30 cm mächtigen, feinsandigen Schicht entdeckten wir Knochenreste.
Becker: Einige Knochenstücke konnten wir leicht aus der Böschung lösen. Das Eis einer Pfütze haben wir aufgebrochen und die Knochen darin gewaschen ...
Schrijver: ... und sie eine ganze Zeit in den Händen hin- und hergedreht. Dabei haben wir diskutiert, von welchem Tier sie stammen könnten. Die klobige Form zweier Rippenstücke, also die Dicke, die dichte Knochenstruktur und der ovale, fast runde Querschnitt haben uns schließlich vermuten lassen, dass es sich um die Reste einer Seekuh handeln könnte.
Becker: In dieser Schicht entdeckten wir weitere, auch dicht nebeneinander liegende, Knochen. Uns war damit klar: Dies könnte ein besonderer Fund sein.
Schrijver: Die Zeit drängte aber, denn das Wochenende stand bevor und am Montag würden die Bauarbeiten weitergehen.
Schrijver: Zumindest mussten wir unbedingt ein Abbaggern der Fundstelle verhindern. Also sprachen wir mit dem Polier der Baustelle, telefonierten mit unseren Vorgesetzten und schickten Fotos an unseren Paläontologen Christoph Hartkopf-Fröder, der zwar gerade im Urlaub war, aber unsere Vermutung trotzdem schnell bestätigte: Es sind Knochen einer Seekuh!
Becker: Sofort informierte der GD NRW das LVR-Amt für Bodendenkmalpflege im Rheinland. Um die Fundstelle vor Witterungseinflüssen zu schützen, deckten wir sie in Abstimmung mit dem Polier provisorisch ab. Dabei halfen uns die Mitarbeiter der Baufirma, die ebenfalls von dem Fund fasziniert waren.
Becker: Ich ging glücklich, aber auch besorgt ins Wochenende. Viele Fragen schwirrten mir durch den Kopf. „Überlebt“ die Seekuh das Wochenende? Wird das Grabungsteam weitere Knochen finden, vielleicht sogar den Schädel oder das ganze Skelett?
Schrijver: Ich ahnte, dass unsere Meldung einiges in Bewegung gesetzt hatte und das beschäftigte mich sehr. Was, wenn unsere Einschätzung falsch war? Was, wenn Raubgräber der wissenschaftlichen Untersuchung und Bergung zuvorkommen?
Schrijver: Bereits am frühen Montagmorgen begann das versierte Grabungsteam der Bodendenkmalpflege mit der Bergung. Es war spannend, die Arbeiten zu verfolgen. Das Team mit dem Ausgrabungsleiter und Paläontologen Dr. Hans Martin Weber erstellte zunächst eine ebene Fläche. Dort legten sie innerhalb von zwei Tagen nach und nach alle vorhandenen Knochen frei, indem sie das umliegende Sediment vorsichtig entfernten. Jedes Fundstück wurde nummeriert. Seine Lage wurde eingemessen sowie präzise auf Millimeterpapier übertragen. Für die spätere Rekonstruktion der Fundsituation ist das sehr wichtig. Schließlich wurden die Fundstücke einzeln verpackt, um sie sicher transportieren zu können.
Hartkopf-Fröder: Weil dort die Knochen professionell präpariert werden konnten. Der Präparator des Museums säuberte akribisch jedes Knochenstück, indem er anhaftendes Sediment entfernte. In geduldiger Puzzlearbeit schaute er, welche Fragmente wohin gehören. So gelang es ihm, 12 Rippen zusammenzusetzen.
Hartkopf-Fröder: Ein Wirbelfragment ist sicher dabei. Leider fehlen der Schädel und die Extremitäten. Dafür kann es zwei sehr unterschiedliche Gründe geben: Entweder sind diese Teile des Skeletts abgebaggert worden, bevor meine beiden Kollegen in die Baugrube kamen, oder der Kadaver der Seekuh war bereits zerfallen, als er vom Meeressand überdeckt wurde. Dies ist wahrscheinlicher.
Hartkopf-Fröder: Ihr großer, massiger Körper war vermutlich eine gefundene Mahlzeit für viele Aasfresser im Meer. Die werden sich über den leblosen Körper hergemacht und ihn zerteilt haben. Kopf und Flossen können dabei leicht auf dem Meeresboden verteilt worden sein. Interessant sind übrigens die kleinen Seepocken auf vielen Rippen. Diese Tiere leben ein paar Jahre. Also müssen die Knochen eine ganze Zeit lang auf dem Meeresboden gelegen haben, bis sie eingebettet wurden.
Hartkopf-Fröder: Im Rheinland gibt es nur ganz wenige Funde von fossilen Seekuh-Skeletten. Aber nicht nur die Seekuh ist interessant. Wir haben in der Fundschicht viele andere Fossilien entdeckt: Muscheln, Schnecken, Kahnfüßer, Käferschnecken, Korallen, Moostierchen und so weiter. Auch Hai- und Rochenzähne waren dabei.
Becker: Letztere haben wir im Gelände allerdings nicht gefunden.
Hartkopf-Fröder: Die kamen erst zum Vorschein, nachdem wir in unserem Labor Sediment des Fundortes aufgeschlämmt und durch feine Siebe gegeben haben. So haben wir die kleinen Fossilien von den mineralischen Bestandteilen getrennt. Mehr als 200 verschiedene marine Fossilarten haben wir bereits isolieren können.
Hartkopf-Fröder: Natürlich ist es nicht einfach, ein 28 Millionen Jahre altes Ökosystem zu rekonstruieren, wir sind ja noch mitten in unseren Untersuchungen. Sicher ist, dass es ein flaches, warmes Meer war – der Vorläufer der heutigen Nordsee. Unsere Seekuh hat darin die Seegraswiesen abgeweidet. Der Strand war nicht weit vom Fundort entfernt, denn in dem Feinsand kommen auch kleinere und größere Gerölle vor. Diese Gerölle sind bei starkem Wellengang vom Strand in Richtung offenes Meer verfrachtet worden. Es war also ein Geröllstrand, kein Sandstrand und das Bergische Land war das Festland.
Hartkopf-Fröder: Dieser Fund hat eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen ins Rollen gebracht, die wir durch Kooperationen mit Forschungsinstitutionen und Museen voranbringen wollen. So haben wir Dr. Oliver Hampe und seine Kollegin Dr. Manja Voss vom Naturkundemuseum Berlin ins Boot geholt. Die beiden sind in Deutschland die Spezialisten für fossile Seekühe. Weitere Experten werden dazukommen. Ein gutes Netzwerk aus engagierten Kollegen ist wichtig. So können die Arbeiten auf viele Schultern verteilt werden. Für uns sehr hilfreich: junge, wissbegierige Studierende aus den Geowissenschaften, die gerne mitarbeiten möchten. Sie sind willkommen, mehr über die Seekuh und die artenreiche Meeresfauna herauszufinden. Ich kann mir kaum etwas Spannenderes vorstellen.
Becker: …, dass dieser Fund ein weiteres kleines Puzzleteil ist, das zum Verständnis der Erdgeschichte unseres Landes beiträgt.
Hartkopf-Fröder: … die tolle Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, die es uns ermöglicht, außergewöhnliche Dinge herauszufinden, der Öffentlichkeit zu präsentieren und die Geowissenschaften in Nordrhein-Westfalen voranzubringen.
Schrijver: … in einer Baugrube zu stehen und in den Händen Reste eines Meeressäugers zu halten, die belegen, dass es hier einen völlig anderen Lebensraum gegeben hat – eine Welt ohne Menschen.
Die Entdecker: Dr. Stephan Becker und Daniel Schrijver (v. r.)
Unser Paläontologe Christoph Hartkopf-Fröder mit dem Spezialisten für fossile Seekühe Dr. Oliver Hampe vom Naturkunde Museum Berlin (v. r.)
Paläogeographie vor 28 Millionen Jahren
Gesäuberte und zusammengesetzte Rippen der Seekuh
Schnecken, die beim Seekuh-Skelett gefunden wurden.
Schnecke mit zwei aufgewachsenen Korallen
Rekonstruktion der 28 Millionen Jahre alten Ratinger Seekuh und ihres Lebensraumes (Bild: Denise Seimet)
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